Ausgehend davon, dass es nur sehr wenige Studien gibt, die repräsentativ die Verbreitung von Vergewaltigungen beleuchten, hat sich eine Forschungsgruppe im Auftrag verschiedener UN-Gruppen mit der Frage beschäftigt, wie viele Männer Vergewaltigungen verüben, was die Hintergründe dieser sind, welche Begründungen sie selbst angeben und wer die Betroffenen sind. Ein weiterer Schwerpunkt ist Gewalt in Beziehungen. Die Forschung wurde durch ein regionales Programm der folgenden Institutionen entwickelt: UN Development Programme, UN Population Fund, UN Women und UN Volunteers for the prevention of gender-based violence in Asia and the Pacific in Zusammenarbeit mit dem Medical Research Council of South Africa und den einzelnen Forschungsteams in den verschiedenen Ländern. Die Ergebnisse wurden in zwei Artikeln in einem peer-reviewten Journal im September 2013 publiziert.

      Für die vorliegende Studie wurden an neun Standorten in sechs Ländern im asiatischen/pazifischen Raum – Bangladesch, China, Kambodscha, Indonesien, Papua Neu Guinea, Sri Lanka – im Zeitraum Jänner 2011 bis Dezember 2012 Befragungen durchgeführt. Dafür wurden 12.576 Haushalte angefragt und 10.178 Männer befragt, was eine außergewöhnlich hohe Rücklaufquote bedeutet. Damit haben nur 6,7 Prozent der angefragten Haushalte eine Befragung verweigert. Die interviewten Männer waren zwischen 18 und 49 Jahre alt und wurden über eine mehrstufige Stichprobenerhebung erfasst. Pro angefragtem Haushalt wurde ein Mann befragt – die Wahl hierbei war, wenn notwendig, per Zufall.

      Für die Befragung wurde ein standardisierter und strukturierter Fragebogen verwendet, der von anderen Studien (abbr title="South African Medical Research Council’s Men’s Health and Relationships Study; WHO Multi-country Sudy on Women’s Health and Domestic Violence against Women; International Men and Gender Equality Survey">Sout" African Medical Research Council’s Men’s Health and Relationships Study; WHO Multi-country Study on Women’s Health and Domestic Violence against Women; International Men and Gender Equality Survey) abgeleitet wurde. Die meisten Interviews wurden mit einem männlichen Interviewer im Vier-Augen-Gespräch durchgeführt. Bei besonders sensiblen Fragen wurde eine Technik eingesetzt, bei der die Befragten das Interview selbst durch sprachunterstützte Minicomputer beendeten. Das Wort „Vergewaltigung“ wurde als solches nicht im Fragebogen verwendet, sondern der Begriff wurde operationalisiert auf spezielle Situationen, wie „forced a woman who was not your wife or girlfriend at the time to have sex“.

      Vergewaltigungen von Nicht-Partnerinnen

      In der Einleitung zum Artikel über Vergewaltigungen von Nicht-Partnerinnen wurde auf die einzige zuvor gemachte bevölkerungsbezogene Studie von Männern (in Südafrika) hingewiesen, die zeigte, dass 37 Prozent der Männer zumindest einmal eine Frau vergewaltigt haben. Alle anderen Studien haben zumeist ausschließlich bereits inhaftierte Täter oder Studenten befragt. Bei den verschiedenen zitierten Studien wurden als Schüsselfaktoren zur Verübung von Vergewaltigungen bei den Tätern folgende erörtert:

      • Missbrauch in der Kindheit,

      • Bindungs- und Persönlichkeitsstörungen,

      • soziale Erlerntheit und Kriminalität,

      • allgemein gültige Männlichkeitsideale, die die Wichtigkeit der heterosexuellen „performance“ und der Kontrolle über Frauen unterstreichen und

      • Substanzmissbrauch.

      In der vorliegenden Studie gaben 10,9 Prozent der Männer an, bereits mindestens einmal eine Frau, die nicht ihre Partnerin ist, vergewaltigt zu haben. Dabei variieren die regionalen Unterschiede stark. Bangladesh hat mit 4,3 Prozent die geringste Rate, Papua Neuguinea die höchste mit 40,7 Prozent, während die anderen Länder zwischen 6,2 Prozent und 12,8 Prozent liegen. Meist agierten die Täter alleine. Die Vergewaltigung in einer Gruppe liegt zumeist zwischen 1 und 2 Prozent – Ausnahme hierbei ist Kambodscha, wo die Vergewaltigung gemeinsam mit anderen Männern (5,2 Prozent) öfter vorkommt als jene alleine (3,1 Prozent). 55,4 Prozent der Täter haben bisher eine Frau vergewaltigt, 28,3 Prozent zwei bis drei Frauen und 16,2 Prozent mehr als vier. 57,5 Prozent der Männer, die eine nicht nahe stehende Frau vergewaltigt haben, haben erstmals als Teenager eine Frau vergewaltigt.

      Die häufigsten Begründungen, Nicht-Partnerinnen zu vergewaltigen, sind:

      • sexuelle Berechtigung/ sexueller Anspruch (73,3 Prozent),

      • Suche nach Unterhaltung (58,7 Prozent),

      • Wut und Bestrafung (37,9 Prozent) und

      • Alkoholeinfluss (27 Prozent).

      Weitere Faktoren, die die Verübung einer Vergewaltigung beeinflussen können, sind:

      • Armut,

      • die eigene Leidensgeschichte (vor allem Missbrauch in der Kindheit),

      • wenig Einfühlungsvermögen,

      • Alkohol und Drogenmissbrauch,

      • Männlichkeitsbilder, die heterosexuelle „performance“ (beispielsweise mehrere Sexpartnerinnen oder -partner oder sexuelle Potenz) betonen,

      • Kontrolle über Frauen und

      • Teilhabe in „Gangs“ sowie an dazugehörigen Aktivitäten.

      55,2 Prozent der Männer, die vergewaltigt haben, fühlten sich schuldig, 35,7 Prozent wurden vom Umfeld bestraft, 32,5 Prozent wurden verhaftet und 22,9 Prozent kamen je ins Gefängnis.

      Gewalt gegen Beziehungspartnerinnen

      Ein großer Teil der Studie beschäftigt sich mit Gewalt gegen Beziehungspartnerinnen, mit der Begründung, dass Gewalt in Beziehungen die häufigste Form von Gewalt gegen Frauen ist. Die Einleitung zu diesem Teil der Studie zitiert Ergebnisse anderer Studien, die aufzeigten, dass Männer von 24 Prozent in Brasilien bis zu 42 Prozent in Südafrika Gewalt gegen ihre Partnerinnen ausüben bzw. ausgeübt haben.

      Steigendes Bewusstsein, dass Prävention von Gewalt gegen Beziehungspartnerinnen die Arbeit mit Tätern inkludiert und die Notwendigkeit von Analysen von Gewalt(-tätern) auf mehreren Ebenen ergibt, sind weitere wichtige Grundlagen für die Studie.

      Ein Ziel der Studie ist das Schließen von Forschungslücken (wie die Befragung von Männern).

      In der Studie wird zwischen physischer Gewalt, sexueller Gewalt, emotionalem Missbrauch und ökonomischem Missbrauch unterschieden. Diese Kategorien wurden zu einem Fragenkatalog operationalisiert. Die Variablen aus diesem Raster sind folgende vier:

      • physische Gewalt,

      • sexuelle Gewalt,

      • physische und sexuelle Gewalt,

      • mehrfache emotionale und ökonomische Gewalt.

      Der Fragenblock der Gewalt innerhalb von Beziehungen wurde bei Männern eingesetzt, die angaben, entweder verheiratet zu sein oder mit einer Partnerin zusammen zu leben oder eine feste Freundin zu haben. Dies betraf 8.006 Männer (von 10.178 befragten).

      21,2 Prozent der Männer in Beziehungen gaben an, bereits physische Gewalt angewendet zu haben. 12,7 Prozent sagten aus, sexuelle Gewalt angewendet zu haben. Beides verübten 11,8 Prozent der befragten Männer. Mehrfach emotionale und ökonomische Gewalt (ohne physische oder sexuelle Gewalt angewendet zu haben) verübten 11,8 Prozent. 42,6 Prozent gaben an, nie Gewalt gegen ihre Partnerin verübt zu haben. Eine Rolle für die ausgeübte Gewalt spielten folgende Faktoren, mehr oder weniger nach Stärke des Einflusses (da dieser regional variiert) sortiert:

      • Einstellung in Bezug auf gender und Beziehungspraktiken (Streitereien, Anzahl an Sexpartnerinnen und -partnern, Sex mit Sexarbeiterinnen, kontrollierendes Verhalten, geringe Geschlechtergerechtigkeit),

      • Viktimisierungsgeschichte (emotionaler Missbrauch in der Kindheit, physischer Missbrauch in der Kindheit, sexueller Missbrauch in der Kindheit, Zeuge von Missbrauch der Mutter, sexuelle Viktimisierung inklusive Vergewaltigung),

      • psychologische Faktoren und Substanzmissbrauch (Depression, Alkoholmissbrauch),

      • soziale Charakteristiken (aktuelle Existenzunsicherheit, kein Schulabschluss),

      • Partizipation in Gewalt außerhalb der Familie (involviert in „Gangs“, involviert in Kämpfe mit Waffen).

      Mögliche Gewaltpräventionsmaßnahmen bei häuslicher Gewalt

      Die Ergebnisse stimmen mit Ergebnissen überein, die aus Studien mit Frauenbefragungen gewonnen wurden. Die Forschungsgruppe hat mögliche Gewaltpräventionsmaßnahmen bei häuslicher Gewalt erarbeitet:

      • Programme über gesunde Kommunikations- und Konfliktbewältigungsfähigkeiten, verbunden mit den Themenkomplexen gender und Rechte

      • sexuelle Gesundheitsdienste und Informationen für junge Menschen

      • in Schulen das Wissen und die Fähigkeiten von jungen Menschen, vor allem Buben, über gesunde sexuelle Beziehung erweitern

      • Kampagnen über die männliche Anspruchsberechtigung bezüglich Sexualität

      • Anbieten von Interventionen, die Männer mit ausgeprägtem Kontrollverhalten ansprechen und unterstützen, positive soziale Normen bezüglich einer Geschlechtergleichstellung aufzubauen

      • Programme für Männer und Buben über geschlechtergerechte Einstellungen und Verhaltensweisen

      • Vermittlung positiver und gewaltfreier Elternschaft, um Kinder in einer gesunden, gewaltfreien und sicheren Umgebung aufwachsen zu lassen

      • Programme zur Bewusstseinssteigerung – gegen gesellschaftliche Toleranz von Gewalt gegen Kinder

      • psychosoziale Programme für Kinder zur Bewältigung von Missbrauchs- und Vernachlässigungserfahrungen

      • Kampagnen zur Bewusstseinssteigerung für Männer über sexuelle Gewalt

      • psychosoziale Unterstützungsservices für männliche und weibliche Betroffene von sexueller Gewalt

      • bessere Erreichbarkeit und Erschwinglichkeit von psychischer Beratung und Begleitung für Männer und Frauen

      • Strategien und Programme zur Verbesserung des Gesundheitswesens sowie Programme über Drogenmissbrauch

      • Strategien zur Reduktion des Zugangs zu Alkohol

      • Strategien und Programme zur Verbesserung der ökonomischen Ermächtigung von Männern und Frauen, verbunden mit einfacherem Zugang zu Krediten, Möglichkeiten zur Weiterentwicklung von Berufsfertigkeiten und dem Bezug von angemessenem Gehalt

      • Strategien und Programme zur Sicherung des Zugangs zu sekundären Bildungseinrichtungen für alle

      • Strategien und Programme über kriminelle und organisierte Kriminalität, verbunden mit Rehabilitation von jugendlichen Straftätern und strengeren Waffenkontrollen

      • zielgruppenorientierte Vermittlung und Öffentlichkeitsarbeit zu gewaltfreien Männlichkeitsbildern

      Wichtigkeit sowie Grenzen der Studie

      Einerseits gibt es Grenzen in der Repräsentativität, da neun Regionen innerhalb der sechs Länder nicht überall für das gesamte Staatsgebiet repräsentativ sind. Andererseits ist das Ausmaß der Generalisierung unklar. Eine weitere Unsicherheit entsteht durch die mögliche Dunkelziffer, da die Selbstauskunft bzw. Selbstbeurteilung, gerade im Bereich von sexueller Gewalt, schwierig einwandfrei feststellbar ist. In vier der teilnehmenden Länder wurden auch Studien aus der Perspektive von Frauen durchgeführt und die Zahlen decken sich mit einer relativ niedrigen Varianz. Die Studie ist aus unterschiedlichen Gründen trotz der Grenzen und Unsicherheiten weltweit von Relevanz. Die analysierten Faktoren und Begründungen im Bereich der Vergewaltigungen von Nicht-Partnerinnen decken sich mit Ergebnissen von Studien aus Südafrika und Nordamerika. Weiters leben viele Menschen in dieser Region, und sie ist kulturell divers.

      Die Studie betont die Wichtigkeit Prävention im Kindesalter zu beginnen und langfristige Änderungen in Gesellschaftsbildern und Geschlechterhierarchien sowie in festgefahrenen Strukturen anzustrengen, um Vergewaltigungen entgegenzuwirken. Die Studie hat weiters hervorgehoben, dass die Faktoren, die mit Gewalt in Beziehungen korrelieren, je nach Land unterschiedlich sind und damit aufgezeigt, dass es regionale Unterschiede in den Begründungen und somit in den daraus schlussfolgernden Präventionsmaßnahmen gibt. Die Studie unterstreicht die Wichtigkeit von präventiven Maßnahmen. Dabei sind die wichtigsten Schlagworte:

      • Maßnahmen gegen Geschlechterungleichheiten und Praktiken, die männliche Kontrolle über Frauen legitimieren,

      • Hinterfragen von Männlichkeit als heterosexuelle Dominanz,

      • Interventionen zur Durchbrechung des Missbrauchszyklus in Familien,

      • Verbesserung des Zugangs zum Gesundheitswesen, vor allem bei psychischen Erkrankungen und

      • Thematisieren von Gemeinschaftsgewalt.

      Als neue Erkenntnis (im Gegensatz zu anderen Studien) zeigten sich in der statistischen Auswertung der Daten unterschiedliche Korrelationen in Bezug auf rein physische und rein sexuelle Gewalt gegen Beziehungspartnerinnen. Dies ist insofern interessant, als dass zumeist die beiden Gewaltformen gemeinsam interpretiert werden, die Begründungen in dieser Studie jedoch Unterschiede in der Beeinflussung aufweisen und damit auch unterschiedliche Präventionsmaßnahmen angedacht werden sollten.

      Physische Gewalt (ohne sexueller) gegen Beziehungspartnerinnen wird assoziiert mit geringer Bildung, Erfahrungen von physischer und emotionaler Viktimisierung in der Kindheit, Attitüde der Geschlechterungleichheit, Konflikte innerhalb der Beziehung, Depressionen und Alkoholmissbrauch.

      Sexuelle Gewalt (ohne physischer) gegen Beziehungspartnerinnen wird assoziiert mit Erfahrungen von sexuellem und emotionalem Missbrauch in der Kindheit (aber keinem physischem), mehreren sexuellen Partnerinnen und Partnern, in Anspruch Nehmen von sexuellen Handlungen im Tausch gegen Geld oder Waren, aber nicht mit einer Attitüde der Geschlechterungleichheit. Damit interpretiert die Forschungsgruppe, dass die Verübung von sexueller Gewalt bezeichnend ist für eine Beschäftigung mit der Demonstration von (hetero-)sexueller Performance und sexueller Dominanz über Frauen. Weiters korreliert sexuelle Gewalt mit der Involviertheit in Gangs sowie Kämpfen mit Waffen. Damit ist sexuelle Gewalt verbunden mit Normen von Männlichkeitsbildern, die Härte und Dominanz über andere Männer assoziieren. Faktoren, die sexuelle Gewalt ohne physischer gegen Beziehungspartnerinnen beeinflussen, scheinen damit ähnlicher jenen zu sein, die sexuelle Gewalt gegen Nicht-Partnerinnen beeinflussen als jenen, die physische Gewalt ausüben. Damit wird vermutet, dass Männer, die „nur“ sexuelle Gewalt verüben, spezielle Interventionen benötigen.

       

      Quelle:

      Emma Fulu, Rachel Jewkes, Tim Roselli, Claudia Garcia-Moreno (2012): Prevalence of and factors associated with male perpetration of intimate partner violence: findings from the UN Multi-country Cross-sectional Study on Men and Violence in Asia and the Pacific, on behalf of the UN Multi-country Cross-sectional Study on Men and Violence research team*. The Lancet Global Health, Volume 1, Issue 4, Pages e187 - e207, October 2013, online abrufbar unter: http://www.thelancet.com [Studie aus 2012, veröffentlicht 2013]


      Die Zusammenfassung der Studie können Sie hier downloaden: Zusammenfassung

      Den Artikel auf Englisch können Sie hier downloaden: Artikel

      Unter der Projektleitung von Claudia Hornberg und Monika Schröttle wurde erstmals eine repräsentative Studie zur Lebenssituation von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland durchgeführt. Diese hat ergeben, dass die befragten Frauen besonders stark von Gewalt in jeglicher Form betroffen sind. Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen sind sowohl in hohem Ausmaß Opfer von körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt als auch oftmals vielfältigen Formen von Diskriminierung und struktureller Gewalt ausgesetzt. Dies zeigt, dass Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen bislang unzureichend vor körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt geschützt wurden.

      Schlüsselergebnisse der Studie

      Mädchen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen sind in Hinblick auf Gewalt besonders vulnerabel und gefährdet, vor allem hinsichtlich sexuellem Missbrauch und sexuellen Übergriffen. Die Autorinnen stellen einen wechselseitigen Zusammenhang zwischen Gewalt und der gesundheitlichen Beeinträchtigung/Behinderung fest: Frauen mit Beeinträchtigungen haben ein höheres Risiko als Frauen der Durchschnittsbevölkerung1, Opfer von Gewalt zu werden, und gleichzeitig tragen die Gewalterfahrungen häufig zu späteren gesundheitlichen und psychischen Beeinträchtigungen bei.

      Die Auswertung der qualitativen Interviews ergab weiters einen Zusammenhang zwischen sexuellen Übergriffen mit Formen der Beeinträchtigung, die Hilfeleistungen im Kontext von Körperpflege erforderlich machen, und Einschränkungen der physischen Gegenwehr durch Körperbehinderung.

      Die oftmalige spezifische Sozialisation der befragten Frauen zur Anspruchslosigkeit und Wehrlosigkeit fördert die Vulnerabilität für Gewalt und Dominanz in Paarbeziehungen.

      Besonders auffällig sind die hohen Belastungen durch sexuelle Gewalt in Kindheit, Jugend und Erwachsenenleben. Je nach Untersuchungsgruppe2 waren die befragten Frauen zwei- bis dreimal häufiger von sexuellem Missbrauch in der Kindheit und Jugend betroffen als Frauen der Durchschnittsbevölkerung.

      Frauen mit psychischen Erkrankungen, die in Einrichtungen leben, sind die am höchsten von Gewalt belastete Gruppe der repräsentativen Befragung. Gehörlose Frauen sind die am höchsten von Gewalt belastete Gruppe der Zusatzbefragung. Von jenen wurde vor allem sexuelle Gewalt in Kindheit, Jugend und Erwachsenenleben erlebt.

      Zur Studie

      Unter der Leitung der Sozialwissenschafterinnen Claudia Hornberg und Claudia Schröttle wurde erstmals eine Studie in Deutschland durchgeführt, in der Frauen mit  Beeinträchtigungen und Behinderungen repräsentativ zu ihrer Lebenssituation, ihren Belastungen, zu Diskriminierungen und Gewalterfahrungen in der Kindheit sowie im Erwachsenenleben befragt wurden.

      Insgesamt wurden 1.561 Frauen im Alter von 16 bis 65 Jahren, mit und ohne Behindertenausweis, in Einrichtungen oder in Haushalten lebend und mit starken, dauerhaften Beeinträchtigungen und Behinderungen befragt. Zusätzlich zu diesen quantitativen Befragungen3 wurden in einer qualitativen Studie 31 von Gewalt betroffene Frauen mit unterschiedlichen Behinderungen in Haushalten und Einrichtungen befragt.

      Gewalt in Kindheit und Jugend4

      Je nach Untersuchungsgruppe erlebten 50 bis 60 Prozent der befragten Frauen psychische Gewalt und psychisch verletzende Handlungen durch die Eltern in ihrer Kindheit und Jugend.

      20 bis 34 Prozent erlebten sexuellen Missbrauch durch Erwachsene, womit die befragten Frauen zwei- bis dreimal häufiger betroffen waren als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt (10 Prozent). Unter Miteinbeziehung von sexuellem Missbrauch durch andere Kinder und Jugendliche (zusätzlich zu sexuellem Missbrauch durch Erwachsene) berichtete je nach Untersuchungsgruppe jede zweite bis vierte Frau der Studie von sexuellen Übergriffen in Kindheit und Jugend. Die am häufigsten betroffene Gruppe waren gehörlose Frauen (52 Prozent), gefolgt von blinden Frauen (40 Prozent). Auch psychisch erkrankte Frauen (36 Prozent) und körperlich-/mehrfachbehinderte Frauen (34 Prozent) waren besonders häufig von sexuellen Übergriffen in Kindheit und Jugend betroffen.

      Auffällig ist, dass Frauen, die in der Kindheit ganz oder teilweise in Einrichtungen aufgewachsen sind, dort in erheblichem Ausmaß psychischer und körperlicher Gewalt ausgesetzt waren: Die Hälfte (48 Prozent) der in einfacher Sprache befragten Frauen, die in Heimen oder Internaten ganz oder zum Teil aufgewachsen sind, erlebten dort psychische Übergriffe und mehr als ein Drittel (35 Prozent) körperliche Übergriffe.

      Gewalt im Erwachsenenleben5

      68 bis 90 Prozent der befragten Frauen erlebte, abhängig von der Untersuchungsgruppe, psychische Gewalt und psychisch verletzende Handlungen im Erwachsenenleben, wobei gehörlose, blinde und psychisch erkrankte Frauen mit 84 bis 90 Prozent die am häufigsten betroffenen Gruppen.

      Mit 58 bis 75 Prozent waren mehr als doppelt so viele Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen von körperlicher Gewalt betroffen als Frauen der Durchschnittsbevölkerung (35 Prozent). Vor allem gehörlose (73 Prozent) und psychisch erkrankte Frauen (75 Prozent) erlebten bisher in ihrem Leben physische Gewalt.

      Zu sexuellen Handlungen wurden je nach Untersuchungsgruppe 21 bis 43 Prozent der Frauen gezwungen, am häufigsten dabei gehörlose (43 Prozent) und psychische erkrankte Frauen (38 Prozent).

      Eine besonders von Gewalt im Erwachsenenleben betroffene Gruppe sind gehörlose Frauen. Jene sind am meisten von körperlicher und sexueller Gewalt betroffen – 75 Prozent der gehörlosen Frauen erlebte körperliche Gewalt seit dem 16. Lebensjahr, 43 Prozent der gehörlosen Frauen war von sexueller Gewalt im Erwachsenenleben betroffen, und 84 Prozent erlebte psychische Übergriffe und psychisch verletzende Handlungen. Weiters sind gehörlose Frauen oftmals von körperlicher Partnergewalt betroffen.

      Gewaltkontext und Täterinnen und Täter6

      Wie bei Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt stammen die Täterinnen und Tätern überwiegend aus dem unmittelbaren sozialen Nahraum von Partnerschaft und Familie, also aus dem häuslichen Kontext.

      Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen sind deutlich häufiger von psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt durch den Partner betroffen als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt.

      Bei Frauen, die in Einrichtungen leben, ist die körperliche und sexuelle Gewalt durch BewohnerInnen und ArbeitskollegInnen sowie psychische Gewalt durch BewohnerInnen und Personal besonders signifikant.

      Multiple Gewalterfahrungen in Kindheit, Jugend und Erwachsenenleben7

      Die Ergebnisse der Studie zeigen klar auf, dass Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen sowohl erheblich häufiger einzelnen Formen von Gewalt in Kindheit, Jugend und im Erwachsenenleben, als auch erheblich häufiger fortgesetzte und multiple Gewalterfahrungen in Kindheit, Jugend und im Erwachsenenleben erleben als Frauen der Durchschnittsbevölkerung.

      Fazit und Ausblick

      Das hohe Ausmaß der Gewalt, die Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in allen Lebensphasen erlebten, zeigt klar auf, dass jene bislang unzureichend vor körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt geschützt wurden.

      Niederschwellige, barrierefreie Schutz- und Unterstützungsangebote für Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen sind dringend gefordert.

      Auch die wichtige Rolle von Ärztinnen und Ärzte als Vermittlerinnen und Vermittler an Hilfseinrichtungen ist zu betonen. Aufklärung und Sensibilisierung von Berufsgruppen, die erste Ansprechpartnerinnen und -partner für gewaltbetroffene Frauen sind, muss daher erfolgen.

      Festzuhalten gilt auch, dass die dargestellte personale Gewalt gegen Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in ein System, das von struktureller Gewalt und Diskriminierung jener geprägt ist, eingebettet ist.

      Gewaltprävention kann nur greifen, wenn diese mit einem konsequenten Abbau von Diskriminierung und struktureller Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen einhergeht.

       

      Quelle:

      Schröttle, Hornberg, Glammeier, Sellach, Kavemann, Puhe, Zinsmeister (2012): Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland. Bielefeld, Frankfurt, Berlin, Köln.


      Diese Zusammenfassung
      der Studie gibt es als PDF hier zum Download.

      Eine Kurzfassung der Studie hier online abrufbar.

      Ein Fact Sheet zur Studie kann hier heruntergeladen werden.

      Link zur Studie auf www.bmfsfj.de


      1 Die Vergleiche mit Frauen der Durchschnittsbevölkerung beziehen sich auf die Forschungsergebnisse folgender Studie: Schröttle, Monika/Müller, Ursula (2004): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Berlin.

      2 800 Frauen wurden über einen repräsentativen Haushaltszugang, 420 Frauen im Rahmen einer repräsentativen Einrichtungsbefragung und 341 Frauen im Rahmen einer nichtrepräsentativen Zusatzbefragung in Haushalten (seh-, hör- und schwerstkörper- und mehrfachbehinderte Frauen) befragt.

      3 Jene wurde mit einem strukturierten Fragebogen durchgeführt.

      4 Dieser Abschnitt bezieht sich auf die Ergebnisse der quantitativen Forschung.

      5 Dieser Abschnitt bezieht sich auf die Ergebnisse der quantitativen Forschung.

      6 Dieser Abschnitt bezieht sich auf die Ergebnisse der quantitativen Forschung.

      7 Dieser Abschnitt bezieht sich auf die Ergebnisse der quantitativen Forschung.

      Femizide und Mordversuche 2024

      Details siehe hier.

      Stand: 14.3.2024

      • 7

        Femizide

      • 13

        Mord- versuche / Schwere Gewalt

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